Was bedeutet der Volksentscheid „Berlin klimaneutral 2030“ für Demokratie und Klimaschutz?

Am 26. März stimmten die Berlinerinnen und Berliner im Volksentscheid darüber ab, ob die Stadt 2030 klimaneutral werden soll. Wir ziehen Lehren aus dem Voksentscheid. Grundlage sind zwei Umfragen mit unterschiedlichen Schwerpunkten der Umfrageinstitute Civey und Pollytix.

Am 26. März stimmten die Berlinerinnen und Berliner im Volksentscheid darüber ab, ob die Stadt 2030 klimaneutral werden soll. Genauer gesagt, stimmte nicht die gesamte Stadt, sondern ein Teil der Wahlberechtigten ab. Zwar war die Beteiligung im bundesweiten Vergleich mit 35,7 Prozent überdurchschnittlich hoch. Jedoch wurde die erforderliche Mindestzustimmung von einen Viertel aller Wahlberechtigten verfehlt. 165.000 Stimmen fehlten, um die Hürde zu erreichen, was vor allem daran lag, dass das Verhältnis von JA- und NEIN-Stimmen diesmal sehr knapp war. Am Montag nach dem Volksentscheid hieß es in vielen Medienbeiträgen, Berlin hätte mit NEIN gestimmt, obwohl das Lager der Befürworter mit 18.434 Stimmen knapp vorne lag. Vor allem die damit verbundene Behauptung, die daheimgebliebene Mehrheit wäre gegen den Gesetzentwurf der Initiative gewesen, war für uns Anlass, eine Umfrage in Auftrag zu geben. Grundlage sind zwei Umfragen mit unterschiedlichen Schwerpunkten der Umfrageinstitute Civey und Pollytix.

+++Schlussfolgerungen für die Politik +++

  • Zustimmungsquoren bei Volksentscheiden verzerren das Abstimmungsergebnis und mindern die Beteiligung. Wie in Bayern und Sachsen sollte die Mehrheit der Abstimmenden entscheiden. Das Zustimmungsquorum sollte gestrichen werden.
  • Die Mehrheit trifft Entscheidungen beruhend auf sachlichen Abwägungen. Gemeinwohlorientierte, nicht egoistische Motive stehen im Vordergrund. Handlungsleitend waren die Erreichung der Klimaschutzziele einerseits sowie Zweifel an der Umsetzbarkeit des Gesetzentwurfs andererseits.
  • Die Mehrheit informiert sich aus seriösen Quellen. Der amtlichen Abstimmungsbroschüre kommt eine zentrale Rolle zu. Um einen breiteren Kreis der Abstimmungsberechtigten zu erreichen und die Beteiligung zu erhöhen, sollten die Informationen in leichter Sprache zusammen mit der amtlichen Mitteilung an alle Stimmberechtigten geschickt werden.
  • Vor dem nächsten Volksentscheid sollten die Argumente durch ein losbasiertes Gremium diskutiert sowie aufbereitet und die Ergebnisse an alle Stimmberechtigten verschickt werden. Erfahrungen aus der Schweiz zeigen, dass dadurch die Beteiligung erhöht werden kann.

Versteckte Mehrheit gegen den Volksentscheid?

Volksentscheide, bei denen ein Zustimmungsquorum gilt, haben ein grundlegendes Problem: Sie führen zu unklaren Ergebnissen. Der Berliner Volksentscheid veranschaulicht es sehr eindrucksvoll. Eine Mehrheit stimmt mit JA, in der Berichterstattung wird aber vermutet, dass die „schweigende“ Mehrheit dagegen ist, was sich aus den Abstimmungsergebnissen jedoch nicht herauslesen lässt. Eigentlich sollten Volksentscheide klare Ergebnisse liefern. Deshalb sei hier bereits gesagt, dass Mehr Demokratie Abstimmungsquoren ablehnt. In Bayern entscheidet die Mehrheit der Abstimmenden ohne Quorum. Das wirkt sich positiv auf die Beteiligung aus, da beide Lager mobilisieren müssen.

Doch warum haben viele Berlinerinnen und Berliner nicht teilgenommen? Die Umfragen bringen hier etwas Licht ins Dunkel. 50,8 Prozent derjenigen, die nicht an der Abstimmung teilgenommen haben, gaben an, dass sie ihre Ablehnung zum Ausdruck bringen wollten. Darüber hinaus sind die Gründe vielfältig und reichen von „keine eindeutig Meinung“ über „keine Zeit“ bis hin zu mangelndem Vertrauen in die Wirkung von Volksentscheiden. Auch die zweite Umfrage liefert ähnliche Ergebnisse: 45 Prozent der Nicht-Abstimmenden sprechen sich gegen eine vorgezogene Klimaneutralität, 40 Prozent dafür aus.

Somit scheint sich eine leichte Mehrheit der Nicht-Abstimmenden gegen den Volksentscheid auszusprechen. Ob dies das Ergebnis eines Volksentscheids ohne Zustimmungsquorum gewesen wäre, wo beide Lager maximal hätten mobilisieren müssen, bleibt aber offen. Die Dynamik des Abstimmungskampfes wäre eine andere gewesen. Eins ist aber klar: Ein Volksentscheid am Wahltag hätte keinen sicheren Sieg für die Initiative bedeutet.

Alles nur Bauchentscheidungen?

Oft wird den Menschen unterstellt, sie würden sich in Volksentscheiden eher von Stimmungen als von sachlichen Abwägungen leiten lassen. Es besteht eine Grundskepsis, ob die Mitbürgerinnen und Mitbürger generell in der Lage sind, von eigenen Interessen Abstand zu nehmen, um im Sinne des Gemeinwohls zu entscheiden. Fake-News würden die Menschen manipulieren. Kurzum: „Überlassen wir die Entscheidungen doch lieber den Profis in der Politik!“

Erfreulich ist, dass sich die Abstimmenden gut informiert füllten - die Befürworter mit 84 Prozent etwas besser als Gegner mit 74 Prozent. Die schlechte Nachricht ist, dass sich die Nicht-Abstimmenden mehrheitlich schlecht informiert fühlen (54 Prozent).

Aber woher beziehen sie ihre Informationen? Fast die Hälfte der Abstimmenden (46,1 Prozent) nutzt die amtliche Abstimmungsbroschüre, in der die Initiative und der Senat ihre Argumente darlegen. Die Akteure sind dort zur Sachlichkeit angehalten. Alle Abstimmungsberechtigten bekommen diese zugeschickt. Sie ist somit ein wichtiges Mittel gegen Desinformation.

Beide Seiten sind neuerdings auch verpflichtet, Informationen in leicht verständlicher Sprache vorzulegen. Leider wird diese nicht mit der amtlichen Broschüre an alle Haushalte verschickt, sondern nur auf der Website veröffentlicht. Dies sollte unbedingt geändert werden, bedenkt man, dass sich eine Mehrheit der Menschen auf dem sprachlichen Kompetenzniveau B1 befindet, während Behörden in der Regel mit C1 kommunizieren.

Eine ähnlich zentrale Rolle spielen mit 40 Prozent die klassischen Medien, also Tageszeitungen und der ÖRR. Erstaunlich ist, dass die Sozialen Medien in der Civey-Umfrage mit 14,8 eine eher untergeordnete Rolle spielen. Möglicherweise wird deren Rolle grundsätzlich überschätzt. Auch das persönliche Gespräch mit Freunden und Bekannten hat mit 11,4 Prozent keine zentrale Bedeutung. Jedoch liefert die Pollytix Umfrage auf den ersten Blick widersprüchliche Ergebnisse. Das Gespräch wurde hier mit 60 Prozent am stärksten bewertet. Auch die Sozialen Medien schneiden hier mit 37 Prozent besser ab. Die Differenzen könnten an der etwas unterschiedlichen Fragstellung liegen. Während Civey nach den Informationsquellen fragt, wird bei Pollytix danach gefragt, welche Informationen im Vorfeld wahrgenommen wurden.

Überraschend ist noch ein anderer Wert, nämlich die Bedeutung von Parteien im Abstimmungskampf. Diese fällt mit 9,8 Prozent (Civey: „Organisationen und Parteien“) bzw. 29 Prozent (Pollytix: „Parteien“) gemessen an ihrer zentralen Stellung geringer aus als erwartet.

Über den eigenen Tellerrand schauen

Um die Informationsgrundlage zu verbessern und die Beteiligung an Volksentscheiden zu erhöhen, empfehlen wir den Blick ins Ausland. Der Bundesstaat Oregon hat gute Erfahrungen mit der sogenannten Cititzens‘ Initiative Review gemacht. Dort werden die Kernargumente, die für und gegen eine Initiative sprechen, von einem losbasiertem Gremium, eine Art Mini-Bürgerrat, beraten und diskutiert und an alle Abstimmenden verschickt. (https://healthydemocracy.org/programs/citizens-initiative-review/) Auch in der Schweiz wird damit experimentiert. Erste Ergebnisse zeigen, dass die aufbereiteten Argumente eine wichtige Hilfestellung für viele Abstimmenden sind und die Beteiligung erhöhen. Berlin sollte dieses Format im Vorfeld des nächsten Volksentscheids testen.

 

 

Mangelndes Vertrauen in die Umsetzbarkeit

Aber woran hat es nun gelegen, dass der Volksentscheid gescheitert ist? 59 Prozent der Befragten, die mit NEIN gestimmt haben, geben an, dass sie die Ziele für unrealistisch hielten. Dies war das Kernargument der Gegner des Volksentscheids. Das mangelnde Vertrauen in die Umsetzbarkeit und nicht die Ablehnung von Klimaschutzmaßnahmen allgemein war ausschlaggebend.

Spekulationen darüber, wie die Leute abgestimmt hätten, hätte es eine andere Abstimmungsfrage gegeben, sind mit Vorsicht zu genießen, dennoch lassen sich einige Erkenntnisse ableiten. Hätte das Zieljahr der Klimaneutralität 2040 gelautet und nicht 2045, so hätte es möglicherweise für eine Mehrheit der Abstimmenden wie auch für das Zustimmungsquorum gereicht. 26 Prozent der Nicht-Abstimmenden und 32 Prozent derjenigen, die mit NEIN gestimmt haben, hätte das überzeugt. Hier ist aber fraglich, ob es mit diesem Zieljahr, fünf Jahre früher als vom Senat vorgesehen, zum Volksentscheid gekommen wäre. Um ein Volksbegehren zum Erfolg zu führen, braucht es viele Aktive. Ohne sie sind die Unterschriftenhürden nicht zu schaffen. Mobilisiert hat bei dem Volksbegehren vor allem das Argument, dass mit der Klimaneutralität 2030 das 1,5 Grad Ziel erreichbar bleibt. Wäre die Initiative auf das Zieljahr 2035 gegangen, so es hätte der Umfrage zufolge nicht für einen Erfolg gereicht.

Fazit

Keine grundsätzliche Ablehnung von Klimaschutzmaßnahmen, sondern der mangelnde Glaube daran, dass Berlin das im Volksentscheid formulierte Ziel erreichen kann, haben für die vergleichsweise hohe Ablehnung gesorgt. Viele wollten keinem Gesetz zustimmen, welches ihnen als nicht umsetzbar erschien. Blicken wir ins Mutterland der direkten Demokratie, so ereilt dieses Schicksal viele Volksinitiativen, bei denen sich die Menschen noch unsicher sind. Sie stimmen mit Nein. Das heißt jedoch nicht, dass der Volksentscheid sinnlos war, ganz im Gegenteil. Die Stadt hat selten so breit darüber diskutiert, was im Klimaschutz nötig und möglich ist. Bei den Berlin-Wahlen 2021 und 2023 war das Thema doch eher eines unter vielen. Zudem hat die Koalition bereits vor dem Volksentscheid angekündigt, ein Sondervormögen von mindestens fünf Milliarden Euro für den Klimaschutz auf den Weg zu bringen. Ob es ausreicht und richtig eingesetzt wird, müssen andere beurteilen, aber es verdeutlicht hier erneut die indirekte Wirkung direkter Demokratie. Ähnlich war es beim Volksentscheid zur Rekommunalisierung der Stromversorgung in 2013, der ebenfalls – wenn auch sehr knapp – am Quorum scheiterte, aber dafür sorgte, dass die Landespolitik ein Ökostadtwerk gründete und die Stromnetze zurückholte.

Volksentscheide haben den entscheidenden Vorteil, dass sie eine breite Sachdebatte in der Gesellschaft zu einer spezifischen Frage auslösen. Keine Wahl, keine Umfrage und auch kein anderes Beteiligungsverfahren schafft dies. Manchmal sehr schonungslos legen Volksentscheide offen, wo die Gesellschaft zu einem Thema steht. Daran lässt sich anknüpfen, um neue Initiativen zu starten. Im Bereich des Klimaschutzes wird es sicherlich nicht das letzte Volksbegehren gewesen sein.