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Der Volksentscheid Berlin klimaneutral 2030 - eine demokratiepolitische Einordnung

Die Berlinerinnen und Berliner haben am 26.3. entschieden, doch entschieden ist letztlich nichts. Im Volksentscheid stimmten 51% für die Klimaneutralität der Hauptstadt bis 2030, 49% dagegen. Ein knappes, aber ein Ergebnis für den Vorschlag der Initiative. Und doch gilt der Entscheid als gescheitert. 

Wirkt direkte Demokratie doch nicht? Oder hat die Initiative den Bürgerinnen und Bürgern zu viel versprochen, indem sie ein Gesetz, das gar nicht umsetzbar scheint, zur Abstimmung stellte? Viel wurde in der vergangenen Woche über das Ergebnis und dessen Auswirkungen diskutiert. Hier ein Versuch, Abstimmungskampf, Volksentscheid und dessen Wirkung einzuordnen.

 

 

1. “Der Volksentscheid ist gescheitert.”

Der Volksentscheid “Klimaneutral 2030” ist gescheitert, ist dieser Tage überall zu lesen. Doch stimmt das eigentlich? Was heißt das überhaupt, gescheitert? Bei genauem Blick stellt man fest, dass die Mehrheit der Abstimmenden für den Gesetzentwurf gestimmt hat, der das Berliner Klimaschutz- und Energiewendegesetz umgeschrieben hätte. Der Volksentscheid war also inhaltlich erfolgreich. Anders als bei Wahlen ist die Mehrheitsentscheidung bei Volksentscheiden aber nur gültig, wenn mindestens 25 Prozent aller Stimmberechtigten mit Ja stimmen. Je weniger sich beteiligen, desto geringer ist die Chance, diese Hürde zu nehmen. 

Berlin hatte tatsächlich die Chance, den Entscheid mit der Wiederholungswahl zusammenzulegen - und hat sie vertan. Wenn ein Entscheid mit einer Wahl zusammengelegt wird, ist die Zustimmungshürde nicht mehr so relevant, da durch die Wahl sowieso viele Menschen zur Urne schreiten. Wir wissen aus vielen Beispielen: Die Zustimmungshürde führt bei Volksentscheiden, die nicht mit einer Wahl zusammenfallen, zum Gegenteil von dem, was sie erreichen will, nämlich nicht zu mehr, sondern zu weniger Beteiligung. Es geht auch anders: In Bayern und Sachsen gibt es solche Zustimmungsklauseln nicht. 

In fünf Bundesländern wäre der Volksentscheid übrigens erfolgreich gewesen: In Sachsen und Bayern (kein Quorum), Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen (15 Prozent Zustimmungsquorum), Rheinland Pfalz (25 Prozent Beteiligungsquorum). In drei weiteren wäre er noch knapper gescheitert (20 Prozent Zustimmungsquorum Hamburg, Bremen und Baden-Württemberg).

Erfolg lässt sich auch nicht nur in Zahlen messen: Nie wurde in Berlin jemals so intensiv über den Klimaschutz diskutiert wie vor dem Volksentscheid – auf der Straße, bei Veranstaltungen, zu Hause, an der Arbeit, in den Medien… Die Pariser Klimaziele sind bindend. Aber wie diese umsetzen? Heute gibt es mehr Berlinerinnen und Berliner, die verstanden haben, wie dringlich der Klimaschutz ist, und die bereit sind, mit zu überlegen, wie ein wirklich wirksamer Klimaschutz aussehen muss.

 

2. “Die Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner sieht, dass die Forderungen nicht umsetzbar gewesen wären.

Insgesamt haben mehr Berlinerinnen und Berliner für den Volksentscheid gestimmt, als jeweils für sämtliche politische Parteien in Berlin. Fast 14.000 Stimmen hatte der Entscheid mehr als die CDU in Berlin bei der Wiederholungswahl erhalten. Der CDU wurde nach der Wiederholungswahl ein “eindeutiger Regierungsauftrag” unterstellt - der Volksentscheid gilt als gescheitert. Schon das zeigt, wie unsinnig es ist, einen “Volkswillen” in ein Abstimmungs- und Wahlergebnis hineinzuinterpretieren. 

Es gab beim Volksentscheid anders als bei Wahlen keine Nachwahlbefragung, deshalb wissen wir schlichtweg nicht, warum Menschen nicht zur Abstimmung gegangen sind. Theoretisch könnte ein Fernbleiben von der Abstimmung viele Gründe haben. Beispielsweise auch, dass einige Menschen nicht motiviert waren, bei zwei Abstimmungen kurz hintereinander ein Kreuz zu machen. Wir kennen ähnliche Phänomene von der Wahl bei Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern in einigen Bundesländern, bei denen die Beteiligung im zweiten Wahlgang signifikant abfällt (Nachzuverfolgen beispielsweise hier, bei der Beteiligung bei Bürgermeister-Stichwahlen in Brandenburg).

Aussagen darüber, warum die Berlinerinnen und Berliner überwiegend zu Hause geblieben sind oder teilweise mit Nein gestimmt haben, fußen bisher auf keiner Datenbasis und sind nicht mehr als Spekulationen. Dass sogar die noch regierende Bürgermeisterin hier Vermutungen als Fakten darstellt, und erklärt, die Nicht-Abstimmenden seien überwiegend gegen den Gesetzesvorschlag der Initiative gewesen, ist besorgniserregend. Aus der Schweiz wissen wir, dass Bürgerinnen und Bürger, die sich unsicher sind, zunächst eher mit Nein und bei späteren Abstimmungen dann eher mit Ja stimmen. 

Der Volksentscheid zeigt so nur eins deutlich: Das Zustimmungsquorum sorgt für ein unklares Ergebnis nach einem Volksentscheid und sollte abgeschafft werden. Wahlen- und Abstimmungsregeln haben die Aufgabe, möglichst eindeutige Ergebnisse zu produzieren. Jetzt befinden wir uns in der vermeidbaren Situation, dass alle Beteiligten das Ergebnis zu ihren Gunsten auslegen. Ohne das Zustimmungsquorum wäre dies nicht passiert.

 

3. “Viele Menschen sind nicht hingegangen, deshalb war Ihnen das Thema nicht wichtig.”

Fakt ist beispielsweise auch, dass die Initiative im Vergleich zu anderen Entscheiden, die nicht mit einer Wahl zusammengefallen sind, weit überdurchschnittlich zur Abstimmung mobilisiert hat. Fünf Berliner Volksentscheide fanden nicht an Wahlterminen statt. Nur an dem ersten Volksentscheid über den Weiterbetrieb des Flughafens Tempelhof beteiligten sich mit 36,1 % mehr Menschen. Der Klimaentscheid hat mit 35,8 % eine überdurchschnittliche Beteiligung. Ja, die Beteiligung war signifikant geringer als bei der Wiederholung der Abgeordnetenhauswahl. Dies war bei einem Volksentscheid, der nicht mit einer Wahl zusammenfiel, jedoch nicht anders zu erwarten. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Beteiligung an Wahlen höher ist, da es hier um alles und nicht nur ein Thema geht. Die Gründe, warum Menschen nicht zur Abstimmung gehen, können vielfältig sein: fehlendes Interesse, fehlendes Vertrauen in die Umsetzung, Abstimmungsmüdigkeit oder Ablehnung. Wie bereits erwähnt, gibt es darüber keine Datenbasis.

Langfristig beteiligen sich bei Volksentscheiden sogar mehr Menschen als bei Wahlen. In einer Studie aus der Schweiz über sieben Jahre konnte nachgewiesen werden, dass der Anteil der Abstimmenden und Nicht-Abstimmenden stärker wechselt als bei Wahlen (Quelle). 

 

4. “Der Volksentscheid polarisiert: Die Stadt ist geteilt in Außenbezirke und Innenstadt.”

Die Nicht-Abstimmenden bleiben eine Blackbox. Auch können viele Gründe zu einem Ja oder einem Nein geführt haben. Hier dichotome Bilder aufzumachen verkürzt den umfangreichen Diskurs, der vor der Abstimmung stattgefunden hat und die umfangreichen Gründe, die einer Entscheidung zu Grunde liegen können.  

 

5. “Die Initiative hätte keinen Volksentscheid zu einem abstrakten Ziel, sondern zu konkreten Maßnahmen machen sollen.”

Wer hat das Recht zu entscheiden, ob die Fragestellung der Initiative überzeugend war? Doch nur die Berlinerinnen und Berliner selbst. Dafür sind die Stufen vor dem Volksentscheid da: Als Relevanztest. Diesen Test hat die Initiative vorher bestanden. 

Über 260.000 Unterschriften hat sie in der zweiten Stufe zum Volksentscheid in vier Monaten gesammelt. Das zeigt: Die Fragestellung hat viele Berlinerinnen und Berliner überzeugt.

Übrigens wird auch in der Schweiz oft über abstrakte Verfassungsziele abgestimmt, die dann in die Verfassung geschrieben werden. Die Regierung hat dann die Verpflichtung, diese Ziele umzusetzen. Dass politische Zielforderungen für direktdemokratische Entscheidungen ungeeignet seien, ist falsch. 

 

6. „Volksentscheide bringen doch nichts. Der Senat macht, was er will.”

Das alte Lied von der Regierung, die über die Köpfe der Bürger hinweg regiert, wird nun wieder angestimmt. Auch Volksentscheide könnten daran nichts ändern. Das stimmt nicht. Man kann es den Berlinerinnen und Berlinern aber nicht verübeln, dass sie so denken, wenn man sich den Umgang des Senats mit den zwei letzten Entscheiden anschaut. 

Diese hatten sogenannte „sonstige Gegenstände der politischen Willensbildung“ zur Grundlage: der Entscheid über die Offenhaltung des Flughafens Tegel 2017 und der Entscheid zur die Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen 2021. Es handelt sich bei diesen Verfahren um Abstimmungen, denen kein Gesetzentwurf zu Grunde liegt, sondern die darauf abzielen, „zu Gegenständen der politischen Willensbildung, die Berlin betreffen, sonstige Beschlüsse zu fassen“ (Art. 62 Abs. 1 Satz 2 der Verfassung von Berlin (VvB)). Anders als bei Volksentscheiden, denen ein Gesetzentwurf zugrunde liegt, sind Volksentscheide zu sonstigen Gegenständen vergleichbar mit sogenannten schlichten Parlamentsbeschlüssen, welche rechtlich nicht bindend für den Senat sind, sondern eher ein politisches Signal entfalten.

Beim Volksentscheid am 24. September 2017 sprach sich eine Mehrheit von 56,1% für die dauerhafte Offenhaltung des Flughafens Tegel aus. Das Abgeordnetenhaus entschied sich am 14. Juni 2018 für die Schließung des Flughafens. Dem Votum der Berlinerinnen und Berliner im Tegel-Volksentscheid wurde also nicht gefolgt. Auch der Volksentscheid zur Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen wurde trotz deutlicher Mehrheit im Entscheid bis heute nicht umgesetzt.

Die mangelnde Umsetzung lässt an der Sinnhaftigkeit von Volksentscheiden über sonstige Gegenstände zweifeln. Doch bei genauerem Blick sehen wir: Die beiden letzten Volksentscheide hätte es ohne sonstige Beschlüsse wohl nicht bzw. mit großer Verzögerung gegeben, der politische Wille eines großen Teils der Berlinerinnen und Berliner hätte sich also nicht so konkret und deutlich ausdrücken können. Ohne sonstige Gegenstände würde man große Themenbereiche der bürgerschaftlichen Mitbestimmung entziehen.

Es liegt also an der besonderen Ausgestaltung der direkten Demokratie in Berlin (sonstige Gegenstände und Quorum), dass die jüngsten Entscheide bisher nicht zur Umsetzung gelangt sind. Natürlich ist das gegenüber den Berlinerinnen und Berlinern schwer vermittelbar. Umso mehr ist die Politik gut beraten, auch wenn der Volksentscheid nun am Quorum gescheitert ist, das deutliche Signal für mehr Klimaschutz in der Stadt ernst zu nehmen. 

 

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